14. März 2016 | 18:30
mit Helmut Dahmer, organisiert vom ak nationalsozialismus
Der antisemitische Wahn hat den “Holocaust” überlebt und imponiert als
eines der Sphinxrätsel der Gegenwart. Von der Fähigkeit, solche Rätsel
theoretisch und praktisch zu lösen, hängt das Leben der von der “Pest”
der Diskriminierung und der Massaker bedrohten Gruppen ab. Auch in
Deutschland machten sich nach einer von den Alliierten erzwungenen
Latenz von drei oder vier Jahrzehnten antisemitische Reaktionen wieder
geltend. Es entwickelte sich ein “Antisemitismus ohne Juden”. Das heißt,
dass auch nichtjüdische Flüchtlinge und Migranten — zum Beispiel von der
NSU-Bande — inzwischen ähnlich wie früher Juden diskriminiert und
attackiert werden. Die ideologischen Rechtfertigungen für Judenhass und
Judenmord, für “Ausländer”-Hass und “Ausländer”-Mord variieren, die
Phobie selbst scheint so etwas wie eine historische Invariante zu sein.
Was aber hat der Antisemit vom Antisemitismus, was hat der Xenophobe von
seinem Wahn? Er schließt sich einer informellen Aberglaubensgemeinschaft
an, deren “Bekenntnis” in der Kette vieler Generationen
auskristallisiert wurde, die sich gegen eine sie überfordernde
Vaterreligion und gegen den Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft
revoltierten. Das antisemitisch-xenophobe Dispositiv liefert ihm eine
einfache “Erklärung” für seine eigene Misere und alle Übel dieser Welt.
Zugleich liefert es ihm eine Matrix zur Strukturierung seiner Affekte.
Es exkulpiert und nobilitiert ihn und seinesgleichen, indem es die
vermeintlich “wahren” Schuldigen benennt und ihn zu deren Bestrafung
ermächtigt.
Zum Referenten:
Helmut Dahmer studierte bei Adorno und Horkheimer und war Mitglied des
SDS. Als Professor für Soziologie lehrte er ab 1974 in Darmstadt und ist
seit seiner Pensionierung freier Publizist. Er war leitender Redakteur
der psychoanalytischen Zeitschrift Psyche und Mitglied des
wissenschaftlichen Beirats des Hamburger Instituts für Sozialforschung.