Antifaschistischer und antirassistischer Ratschlag Thüringen

4. November 2022 – 5. November 2022 | ganztags

Gemein­same Zugan­reise aus Jena:

Am 4.11.2022 16:30h (Abfahrt 16:40h), Jena West, Gleis 2.

Am 5.11.2022 08:10h (Abfahrt 08:22h), Jena West, Gleis 2.

Aufruf des 31. antifaschistischen und antirassistischen Ratschlags

Am 9. Novem­ber wird in jedem Jahr den Opfern der Novem­ber­pogrome gedacht. Ihren Schw­er­punkt hat­ten diese am 9. Novem­ber 1938, an dem Deutsche lan­desweit Syn­a­gogen und andere jüdis­che Ein­rich­tun­gen anzün­de­ten, Fried­höfe ver­wüsteten und Hun­derte Jüdin­nen und Juden ermorde­ten. Nach den Auss­chre­itun­gen wur­den etwa 30.000 Jüdin­nen und Juden ver­haftet und in die Konzen­tra­tionslager gezwun­gen. Auch im heuti­gen Thürin­gen wur­den Syn­a­gogen und andere jüdis­che Räume zer­stört – z. B. in Arn­stadt, Eise­nach und Gera. Ein Drit­tel der Ver­hafteten wurde in das Konzen­tra­tionslager Buchen­wald gebracht.

Der antifaschis­tis­che und anti­ras­sis­tis­che Ratschlag find­et seit Anfang der 1990er-Jahre rund um den 9. Novem­ber an wech­sel­nden Orten in Thürin­gen statt. Auf dem Ratschlag kom­men, in Erin­nerung an die Novem­ber­pogrome und im Wis­sen um den mörderischen Gehalt des deutschen Nation­al­sozial­is­mus, Antifaschist*innen und Antirassist*innen ver­schieden­er Spek­tren zusam­men, um die Lage in Thürin­gen zu disku­tieren, Aktive zu ver­net­zen und ihren Teil zur Bekämp­fung all dessen zu leis­ten, das in der Tra­di­tion der Täter*innen von 1938 ste­ht. Dieses Jahr find­et der Ratschlag am 4.und 5. Novem­ber in Gera statt.

Thüringer Verhältnisse

Dass Thürin­gen Antifaschis­mus und Anti­ras­sis­mus nötig hat, braucht kaum ein­er Erläuterung. Man muss nur auf die Wahlergeb­nisse ein­er Thüringer AfD unter Björn Höcke schauen, an den ‚NSU‘ denken und an die Rolle, die der Thüringer Ver­fas­sungss­chutz bei sein­er Entste­hung im ‚Thüringer Heimatschutz‘ gespielt hat, an oder das anhal­tend hohe Niveau ras­sis­tis­ch­er Angriffe. Gegen die Täter*innen wird häu­fig nur ein­seit­ig ermit­telt, ohne eine poli­tis­che Dimen­sion der Tat einzubeziehen. Strafver­fahren wer­den ver­schleppt oder eingestellt, kommt es doch zu juris­tis­chen Ver­fahren gegen Faschist*innen und Neon­azis wird eine poli­tis­che Tat­mo­ti­va­tion auch hier nur sel­ten anerkan­nt und häu­fig nur mild geurteilt. Dies belegt u. a. das jüng­ste Urteil in dem ersten Ver­fahren gegen die Täter, die am 18. Juli 2020 junge Men­schen am Erfurter Hirschgarten bru­tal attack­ierten und auf z. T. bewusst­lose Men­schen ein­trat­en. Alle Angeklagten, denen Land­friedens­bruch und gefährliche Kör­per­ver­let­zung zur Last gelegt wurde, wur­den vom Jugend­schöf­fen­gericht lediglich ver­warnt und mit gerin­gen Aufla­gen wie einem Online-Anti-Gewalt-Train­ing belangt.

Ähn­liche Urteile find­en sich in den ver­gan­genen Jahren immer wieder. Als im ver­gan­genen Jahr der Ball­städt-Prozess zu Ende ging, wur­den die organ­isierten Neon­azis lediglich mit Bewährungsstrafen abges­traft. Diese Inkon­se­quenz der Strafver­fol­gung führt zu einem gestärk­ten Selb­st­be­wusst­sein und Auftreten der Faschist*innen. Ger­ade noch ste­ht ein Teil der dama­li­gen Täter*innen als Mit­glieder des Thüringer Neon­azi-Net­zw­erks Tur­o­nen u. a. wegen Dro­gen­han­del, Zwang­spros­ti­tu­tion und Erpres­sung erneut vor Gericht.

Gle­ichzeit­ig ist in Thürin­gen eine stetige gesellschaftliche Nor­mal­isierung von recht­en Ein­stel­lun­gen erkennbar. Den Umfra­gen des Thürin­gen Mon­i­tors zufolge stim­men beispiel­sweise 42 Prozent der Thüringer*innen der ras­sis­tis­chen Idee zu, Deutsch­land sei „in gefährlichem Maß über­fremdet“. Die AfD und andere Faschist*innen greifen diese Spal­tung zwis­chen Real­ität und Wahrnehmung auf und beschwören eine Vertei­di­gung­shal­tung, in der das „nor­male“ Thürin­gen von fin­steren Mächt­en bedro­ht wird.

Beson­ders deut­lich wurde in den let­zten Jahren der Zusam­men­hang von ver­meintlich­er Vertei­di­gung, Ver­schwörungserzäh­lun­gen und Anti­semitismus auf den „Querdenken“-Demonstrationen gegen die Hygien­eschutz­maß­nah­men in der Coro­n­a­pan­demie. Alt­bekan­nte Faschist*innen und Neon­azis waren von Anfang an auf diesen Demon­stra­tio­nen vertreten. Durch eine fehlende Dis­tanzierung der ver­meintlich unpoli­tis­chen Maßnahmengegner*innen kon­nten sie in vie­len Thüringer Ortschaften Führungsauf­gaben in der Mobil­isierung und Organ­i­sa­tion der Proteste übernehmen.

Diese rechte Mobil­isierung hält nach wie vor an und nimmt auch die Fra­gen der exis­ten­ziellen Lebenser­hal­tung auf. Eine steigende Infla­tion, die sich ins­beson­dere durch steigende Energie- und Lebens­mit­tel­preise bemerk­bar macht, fehlen­der Infla­tion­saus­gle­ich und Druck auf die Arbeitnehmer*innen in Man­gelsek­toren mit zum Teil unhalt­baren Arbeits­be­din­gun­gen erhöhen für viele die Plau­si­bil­ität rechter Argu­men­ta­tio­nen. Zugle­ich propagieren Bun­des- und Lan­desregierun­gen einen nationalen Zusam­men­halt. Passend dazu lautet das Mot­to der zen­tralen Feier­lichkeit­en zum 3. Okto­ber, die in diesem Jahr in Erfurt stat­tfind­en: „Zusam­men wach­sen um zusam­men­zuwach­sen“. Doch Antifaschist*innen und Antirassist*innen gehen dem nationalen Kitt nicht auf den Leim. Während andere deutsche Poli­tik für deutsche Inter­essen fordern, ist der rus­sis­che Angriff­skrieg gegen die Ukraine für Unternehmen ein willkommen­er Anlass, die Preise in die Höhe zu treiben.

Warum Gera?

Gera ist seit den frühen 90er-Jahren eine Hochburg der Faschist*innen. Neon­azis, Rassist*innen, Antisemit*innen, Verschwörungserzähler*innen und Reichsbürger*innen sind in Gera seit nun­mehr über 30 Jahren aktiv. Viel zu uner­he­blich war und bleibt bis heute der zivilge­sellschaftliche antifaschis­tis­che Wider­spruch.

In den 90er-Jahren war die Kam­er­ad­schaft Gera eine der aktivsten inner­halb des ‘Thüringer Heimatschutzes’. Gegen führende Ger­aer Kam­er­ad­schaftler sowie Uwe Mund­los und Uwe Böhn­hardt wurde Mitte der 90er in einem groß angelegten Ver­fahren der Ger­aer Staat­san­waltschaft ermit­telt. Der Vor­wurf damals: Bil­dung ein­er krim­inellen Vere­ini­gung. Ein­er der verdächti­gen Ger­aer war später lange Jahre der Vor­sitzende des NPD-Kreisver­ban­des Gera und saß für zumin­d­est zwei Leg­is­la­turen im Ger­aer Stad­trat. Das Ver­fahren wurde, wie so viele Ver­fahren gegen organ­isierte Nazikad­er, ergeb­nis­los eingestellt.

Im sel­ben Zeitraum zum Ende der 90er-Jahre gab es in Gera und in Thürin­gen eine höchst aktive ‘Blood & Hon­our’ Struk­tur. Ein mil­i­tantes Nazinet­zw­erk zur Organ­i­sa­tion von Konz­erten, dem Schutz der­sel­ben und zur Pro­duk­tion und zum Ver­trieb vom Nazisound der Base­ballschläger­jahre. Auch diese Nazistruk­tur war durch­set­zt mit Spitzeln der soge­nan­nten Ver­fas­sungss­chut­zor­gane. Der Leit­er der Thüringer Sek­tion und gle­ichzeit­ig bun­desweit­er Kassen­wart war ein Ger­aer. Auf ‘Blood & Hon­our’ Konz­erten sam­melte er Geld für das unter­ge­tauchte Kern­trio des NSU. 2001 wurde er als Spitzel ent­tarnt.

Die Jugen­dor­gan­i­sa­tion von ‘Blood & Hon­our’, ‘White Youth’, wurde von Ger­aer Nazis gegrün­det. Diese find­en sich wieder auf der Kon­tak­tliste von Böhn­hardt und Mund­los, die nach dem Unter­tauchen der Ter­ror­is­ten in ihrem Sprengstof­fla­bor gefun­den wird. Vom Ger­aer Grün­der und Anführer von ‘White Youth’ existieren Fotos in enger Umar­mung mit Beate Zschäpe. Man ken­nt, schätzt und ver­lässt sich aufeinan­der. Viele der damals Beteiligten, wie auch die hier beschriebe­nen Män­ner, leben nach wie vor völ­lig unbe­hel­ligt in Gera. Es gibt sehr deut­liche Hin­weise, dass sie ihrer men­schen­ver­ach­t­en­den Ide­olo­gie nie abgeschworen oder sich von ihren Kamerad*innen abge­wandt haben. Auch der im NSU-Prozess angeklagte Unter­stützer André Emminger hat deut­liche Bezüge zu Musiker*innen und Produzent*innen rechter Musik aus Gera. Heute sam­melt der örtliche Motor­rad­club ‘Stahlpakt MC Gera’ Geld für ihn.

Etliche rechte Bands aus Gera wie ‘Oithanasie’, ‘Legion Ost’, ‘Eugenik’ und ‘Toten­burg’ haben ihre Wurzeln in dieser Zeit tief im Ger­aer Naz­im­i­lieu. Nach dem Ver­bot von ‘Blood & Hon­our’ wur­den Sam­pler mit Naz­ibands zur Unter­stützung der Unter­grundtätigkeit, mut­maßlich durch Ger­aer Neon­azis, hier pro­duziert und ver­trieben. Der Ger­aer Thüringer Sek­tion­schef und bun­desweite Kassen­wart klagte erfol­g­los gegen dieses Ver­bot. In den fol­gen­den Jahren gelang es dem Kreisver­band der NPD Gera, unter dem ein­gangs erwäh­n­ten Kreisvor­sitzen­den, eben jene mil­i­tan­ten Kam­er­ad­schaftsstruk­turen aufz­u­fan­gen und in legale Struk­turen zu über­führen. Aus dieser Koop­er­a­tion geht in den 2000 Jahren das jährliche NPD Open Air ‘Rock für Deutsch­land’ her­vor. Unter dem legalen Deck­man­tel der Parteitätigkeit ent­fal­ten diesel­ben Nazikad­er und recht­en Musik­er rege Kundge­bungs- und Demon­stra­tionstätigkeit. Aber eben auch jene musikalis­chen Aktiv­itäten, wie das ‘Rock für Deutsch­land’ gelin­gen aus dieser Ver­net­zung mil­i­tan­ter Nazis und legaler NPD Parteistruk­turen. In welch­er Tra­di­tion sich diese 2012 noch immer begrif­f­en, wird deut­lich als in jen­em Jahr ein altes Ban­ner mit der Losung des ‘Thüringer Heimatschutzes’ die Bühne des ‘Rock für Deutsch­land’ zierte.

Die Musiker*innen und Produzenten*innen rechter Musik, vor allem um die Ger­aer Bands ‘Eugenik’ und ‘Toten­burg’, sind bis heute mit Labels, Ver­sän­den, ihren Bands und Stu­dios in Gera aktiv. Mit­tler­weile beset­zen sie zwar eher die Nis­che des nation­al­sozial­is­tis­chen Black Met­als sind dabei aber höchst erfol­gre­ich und europaweit ver­net­zt.

2015 / 2016 ver­net­zen sich unter anderem auch eben jene Kad­er erneut, um ihrem Ras­sis­mus freien Lauf zu lassen. ‘Thügi­da’ heißt die Plat­tform, gegrün­det vom Greiz­er Nazi David Köck­ert. Auch er entstammt dem 90er-Jahre ‘Blood & Hon­our’ Umfeld. Hier kanal­isiert sich der Ras­sis­mus auf der Straße und der Otto-Nor­mal­bürg­er schließt sich auch in Gera begeis­tert an. ‘Thügi­da’ und ‘Wir lieben Gera’ mobil­isieren in dieser Zeit mehrere Tausend Men­schen in Gera, darunter auch der heutige Ger­aer Stad­tratsvor­sitzende. Die Geschäftsstelle des Ger­aer Kreisver­ban­des der AfD beschäftigt seit ger­aumer Zeit einen Mann, der mil­i­tan­ten Kam­er­ad­schaftsstruk­turen entstammt und später Man­dat­sträger der NPD im Ger­aer Stad­trat war.

Heute organ­isieren Ger­aer AfD-Mandatsträger*innen aus Bund, Land und Kom­munen zusam­men mit Neon­azis aus den 90er-Jahren und selb­st ernan­nten ‘Spaziergängern’ oder ‘Quer­denkern’ soge­nan­nte Mon­tags­demon­stra­tio­nen. Dies tun Sie lei­der höchst erfol­gre­ich und so ist Gera mit­tler­weile eine Hochburg der ‘Querdenken’-Proteste. Zeitweise ging in Gera eine mit­tlere vier­stel­lige Zahl von Per­so­n­en regelmäßig auf die Straße. Nach dem ersten Abflauen der Proteste im Früh­som­mer 2020 waren es regionale Neon­azis in Zusam­me­nar­beit mit kom­mu­nalen AfD-Politiker*innen, welche die Proteste am Laufen hiel­ten. Sie testeten Organ­i­sa­tion­san­sätze, Mobil­isierungsstruk­turen und unter­schiedliche Protest­for­men und das mit Erfolg. Denn zum Jahreswech­sel 2021/22 explodierten die Zahlen der Teilnehmer*innen. Das Ger­aer Pub­likum stört sich daran nicht. Im Gegen­teil, sie applaudieren Ras­sis­mus, anti­semi­tis­chen Ver­schwörungserzäh­lun­gen und der Ent­men­schlichung des poli­tis­chen Geg­n­ers. Diese Ver­bre­itung von men­schen­ver­ach­t­en­den Ide­olo­gien inner­halb der soge­nan­nten bürg­er­lichen Mitte zeigt sich hier am Beispiel der Spaziergänge beson­ders gut. Mit­tler­weile spielt der ehe­ma­lige Aufhänger Coro­na kaum noch eine Rolle. Es wird gegen links-grü­nen Faschis­mus demon­stri­ert, für den rus­sis­chen Angriff­skrieg auf die Straße gegan­gen oder gegen die Thüringer Lan­desregierung gehet­zt. Antifaschis­tis­chen Protest dage­gen gibt es auch in Gera, auch wenn nur wenige Men­schen daran teil­nehmen und immer wieder von den Aufzü­gen der Faschist*innen ange­grif­f­en wer­den. Auch Journalist*innen, welche dies doku­men­tieren, sind immer wieder Attack­en von Neon­azis aus­ge­set­zt. Ein Grund, um hier mit dem Ratschlag zu inter­ve­nieren, sol­i­darische Bünd­nisse vor Ort zu stärken und antifaschis­tis­che Struk­turen zu unter­stützen.

Wenn nicht ger­ade auf Demon­stra­tio­nen organ­isieren sich mil­i­tante Neon­azis in Gera unter dem Label der Neuen Stärke, die aus rechtlichen Grün­den als Partei fir­miert. Ein­er der Bun­desvor­sitzen­den dieser Partei ist ein seit Jahren gut bekan­nter Ger­aer Nazikad­er. Sinnbildlich für die Kon­ti­nu­itäten nicht nur in dieser Stadt. Die ‘Neue Stärke’, auch in anderen Thüringer Städten aktiv, ist aus den regionalen Resten ein­er anderen nation­al­sozial­is­tis­chen Kle­in­st­partei (‘Drit­ter Weg’) her­vorge­gan­gen. Noch spielt sie eher eine unter­ge­ord­nete Rolle, gebärdet sich aber umso mil­i­tan­ter mit kaum ver­hohle­nen NS-Bezü­gen. Erwäh­nenswert ist hier­bei, wie erfol­gre­ich antifaschis­tis­che Inter­ven­tio­nen mit über­re­gionalen Bünd­nis­sen im Bezug auf Ver­anstal­tun­gen der Neuen Stärke in Gera waren. Durch groß angelegten Protest kon­nten Kundge­bun­gen der Nazis kaum Wirkung in Gera erzie­len.

Die stärk­ste Partei bei der Bun­destagswahl war im Wahlkreis, in dem Gera liegt, dazu passend die AfD, die auch im Ger­aer Stad­trat mit einem knap­pen Drit­tel der Sitze die mit Abstand größte Frak­tion stellt. Wenig verblüf­fend also, dass in ein­er Studie der Hochschule Gera-Eise­nach 88 Prozent der in Gera leben­den syrischen und irakischen Migrant*innen von ras­sis­tis­chen Erfahrun­gen bericht­en und die Hälfte solch­er Anfein­dun­gen oft oder nahezu täglich erlebt. In dieser Aufzäh­lung darf aber nicht unterge­hen, dass Gera keineswegs die Aus­nahme in Thürin­gen ist und Antifaschis­mus und Anti­ras­sis­mus diesen Ver­hält­nis­sen gegenüber über­all in Thürin­gen aus ein­er Posi­tion der Defen­sive her­aus agiert.

Kontroverse Diskussionen als Grundlage verlässlicher Solidarität

Wir kön­nen und soll­ten uns also nicht auf pop­ulis­tis­che Slo­gans wie „Wir sind mehr“ ver­lassen, son­dern müssen unsere Hand­lungs­fähigkeit aus dieser Defen­sive her­aus organ­isieren; das war ein­er der Grün­dungs­gedanken des antifaschis­tis­chen und anti­ras­sis­tis­chen Ratschlags und gilt auch für Gera. Die Aktiv­en, die sich gegen Rechts stellen, kom­men aus den Gew­erkschaften, aus Antifa-Grup­pen, aus zivilge­sellschaftlichen Bürger*innenbündnissen, Parteien oder kirch­lichen Kon­tex­ten. Ihre Sol­i­dar­ität miteinan­der und ihre Zusam­me­nar­beit ist nicht selb­stver­ständlich und bedarf ein­er andauern­den, auch kon­tro­ver­sen Ver­ständi­gung, zu welch­er der Ratschlag seit über 30 Jahren beiträgt.

Ein zugle­ich vere­inen­des und tren­nen­des Moment dieser Ver­ständi­gung ist die Frage des Ver­hält­niss­es zwis­chen Ras­sis­mus und Faschis­mus ein­er­seits und den wirtschaftlichen Ver­hält­nis­sen ander­er­seits. Der antifaschis­tis­che und anti­ras­sis­tis­che Ratschlag wurde von Gewerkschafter*innen begrün­det, sodass ihn diese Frage seit seinem Beginn begleit­et. Den­noch wird auf dem Ratschlag immer wieder darum gestrit­ten, ob es vor allem der fehlende soziale Aus­gle­ich ist, der die Spal­tun­gen in dieser Gesellschaft ver­schärft und so den Nährbo­den für reak­tionäre Posi­tio­nen und Ide­olo­gien bere­it­et, oder ob die kap­i­tal­is­tis­che Wirtschaft, die in ihrer Grund­struk­tur die Men­schen in Konkur­renz zueinan­der set­zt und sie füreinan­der gle­ichgültig macht, die Wurzel des Faschis­mus sei.

Eng verknüpft mit dieser Frage ist ein zweites The­men­feld der Ver­ständi­gung, das den Ratschlag begleit­et: Ras­sis­mus in Thürin­gen sind nicht nur AfD und Nazi-Schläger*innen, alltägliche Diskri­m­inierun­gen und kör­per­liche Angriffe, son­dern auch Aus­län­der­recht und Abschiebun­gen. Entsprechend wird auf dem Ratschlag Anti­ras­sis­mus auch im Bezug auf den Staat disku­tiert, als Kampf für eine men­schlichere Ein­wan­derungspoli­tik oder als fun­da­men­tale Kri­tik an Gren­zen und der Ille­gal­isierung von Men­schen über­haupt. Während­dessen unter­schei­den sowohl der Staat als auch Faschist*innen zwis­chen ange­blich legit­i­men und ille­git­i­men Flucht­grün­den, um Men­schen in Not und Hunger zu schick­en, die hier ein besseres Leben haben kön­nten.

Diese Diskus­sio­nen offen und kon­tro­vers zu führen, ist immer wieder wichtig, weil die spek­trenüber­greifende Sol­i­dar­ität eben nicht selb­stver­ständlich ist. Sie ist aber in Städten wie Gera und Regio­nen wie Thürin­gen notwendig, und der Ratschlag lebt von ihr. Das bein­hal­tet auch Ver­suchen der Dele­git­imierung und Krim­i­nal­isierung emanzi­pa­torischen Denkens und Han­delns ent­ge­gen­zuwirken.

Delegitimierung und Kriminalisierung von Antifaschismus

Ein Instru­ment dieser Dele­git­imierung ist der Extrem­is­mus­be­griff und die damit legit­imierte Prax­is von Deradikalisierung und Extrem­is­mus­präven­tion. Dem Konzept liegt der Glaube zugrunde, die Gesellschaft lasse sich in eine Mitte und ihre links und rechts zu veror­tenden poli­tis­chen extremen Rän­dern ein­teilen. Damit wer­den linke, emanzi­pa­torische Bestre­bun­gen mit der men­schen­ver­ach­t­en­den Ide­olo­gie und Prax­is von Nazis gle­ichge­set­zt. Entsprechend sollen Bil­dung, Beratung und Ver­net­zung gegen Rechts mit­tels För­der­mit­tel­logik und Steuer­recht (Entzug der Gemein­nützigkeit) so engge­führt wer­den, dass das Ziel ist, dann nicht mehr eine Erweiterung von Hand­lungs­fähigkeit und das Zurück­drän­gen von Ide­olo­gien der Ungle­ich­heit ist, son­dern die Zus­tim­mung zu den aktuell herrschen­den For­men von Mitbes­tim­mung, anders gesagt: Stramm­ste­hen für die Demokratie. Dass dabei die Gewalt­för­migkeit von Staat sowie die Ver­bre­itung men­schen­ver­ach­t­en­der Ein­stel­lung inner­halb der ver­meintlichen Mitte der Gesellschaft aus­ge­blendet wer­den, ist gewollt. Eben­so wer­den etablierte Akteure im Feld genötigt, sich von radikaleren Bestre­bun­gen und Grup­pen zu dis­tanzieren, was auf eine Schwächung des Engage­ments gegen Rechts hin­aus­läuft.

Aus diesem Inter­esse her­aus lässt sich auch die Grün­dung eines Thüringer Unter­suchungsauss­chuss­es gegen “poli­tisch motivierte Gewaltkrim­i­nal­ität” – ini­ti­iert von der CDU – bew­erten. In der Beschrei­bung dessen, worüber der Unter­suchungsauss­chuss aufk­lären soll, ver­schwimmt nicht ein­fach die Dif­feren­zierung zwis­chen den soge­nan­nten poli­tis­chen Extremen. Die Dok­trin des Extrem­is­mus wird zur Dämon­isierung von links herange­zo­gen: Mehrfach ist von den Gefahren des “Link­sex­trem­is­mus”, gar “-ter­ror­is­mus” die Rede. Nir­gends von “Recht­sex­trem­is­mus” und von rechter, ras­sis­tis­ch­er und anti­semi­tis­ch­er Gewalt nur da, wo infrage gestellt wird, dass es dahinge­hend eine große Dunkelz­if­fer in Thürin­gen gäbe.

Diese Ein­schätzung scheint im Wider­spruch dazu zu ste­hen, dass mit dem Auf­fliegen des “NSU” und dem Offen­bar­w­er­den der Ver­strick­un­gen des Ver­fas­sungss­chutzes in die Mord­serie deut­lich gewor­den ist, dass mörderische Gewalt von Neon­azis und staatlichen Behör­den aus­ge­ht – etwas, das sich auch außer­halb Thürin­gens und nicht zulet­zt an den Gren­zen der EU immer wieder bestätigt. Tat­säch­lich beschreibt es tre­f­fend das poli­tis­che Kli­ma, in dem wir uns befind­en.

Auch die Repres­sion gegen Linke, die im Antifa Ost-Ver­fahren ihren aktuellen Höhep­unkt find­et, ist Aus­druck dessen. Seit Sep­tem­ber 2021 sind Antifaschist*innen vor dem Ober­lan­des­gericht Dres­den von der Bun­de­san­waltschaft angeklagt, denen die Bil­dung ein­er krim­inellen Vere­ini­gung vorge­wor­fen wird. Diese Vere­ini­gung soll gezielt Angriffe auf Neon­azis in Sach­sen und Thürin­gen verübt haben. Durch das Ver­fahren und die Ermit­tlung, mit dem an den Angeklagten ein Exem­pel sta­tu­iert wer­den soll, wird offen­sives Vorge­hen gegen Nazis zunehmend krim­i­nal­isiert und dele­git­imiert. Der Aus­gang des Prozess­es wird ver­mut­lich neue Maßstäbe der Strafver­fol­gung gegen Antifaschist*innen set­zen. Am Landgericht Gera ist ein Ver­fahren gegen min­destens drei Beschuldigte des­gle­ichen §129-Ver­fahrens anhängig.

Was sich an den Ereignis­sen des Ver­fahrens außer­dem zeigt, ist, dass der viel beschworene Sol­i­dar­ität auch Gren­zen inner­halb der eige­nen Struk­turen geset­zt sind. In einem Out­call gegen einen der­er, die (ehe­mals) dem Kreis der Beschuldigten zuzuord­nen waren, wurde dessen sex­uelle Gewalt­tätigkeit offen­gelegt. Vor­mals sollte dieser Täter nach Abschluss der Ver­hand­lung in Dres­den, in Gera vor Gericht ste­hen gemein­sam mit drei weit­eren Beschuldigten. Ein Deal mit den Ermit­tlungs­be­hör­den und der Ein­tritt in ein Zeu­gen­schutzpro­gramm wird dies obso­let wer­den lassen. Das poli­tisch geführte Ver­fahren gegen kon­se­quenten Antifaschis­mus soll den­noch sol­i­darisch begleit­et wer­den. Die Gemen­ge­lage aus Täter­schaft und einem ermöglichen­den schützen­den Umfeld ist eine enorme Her­aus­forderung für die Anti­re­pres­sion­sar­beit.

Die Vielzahl von Out­calls durch Betrof­fene sex­u­al­isiert­er Gewalt der let­zten Jahre aus Thürin­gen und anderen Bun­deslän­dern, in denen sex­is­tis­ches Ver­hal­ten und sex­u­al­isierte Gewalt von Män­nern aus der linken Szene, Parteien und Gew­erkschaften sicht­bar gemacht wur­den, haben die enor­men Her­aus­forderun­gen deut­lich gemacht. Mit denen wir uns auch auf dem Ratschlag immer wieder kri­tisch auseinan­der­set­zen und ihnen wir prak­tisch – z.B. durch Auf­bau ein­er Aware­nessstruk­tur und Auss­chluss von Tätern – begeg­nen müssen. Allerd­ings darf diese Beschäf­ti­gung nicht auf den Ratschlag begren­zt wer­den. Patri­ar­chales und sex­is­tis­ches Ver­hal­ten begeg­net uns in vie­len Bere­ichen, in denen wir organ­isiert sind. Der Ratschlag kann daher nur ein Start­punkt zur Auseinan­der­set­zung für die beteiligten Organ­i­sa­tio­nen sein.

Daran wird eine Schwierigkeit deut­lich vor der Antifaschist*innen ste­hen. Wir dür­fen in der Kon­fronta­tion mit den äußeren Wider­sprüchen wie etwa der staatlichen Repres­sion nicht über die eige­nen Wider­sprüche wie Sex­is­mus und Mack­er­tum inner­halb unser­er Struk­turen und Organ­i­sa­tio­nen hin­weg gehen, weil das schein­bar strate­gisch geboten erscheint. Nur dann kön­nen wir durch den Ratschlag einen Raum schaf­fen, in dem wir offen, kon­tro­vers und sol­i­darisch für eine bessere Gesellschaft stre­it­en kön­nen, auch dann, wenn diese Utopie in weit­er Ferne scheint.

Kommt am 04. und 05. Novem­ber zum Ratschlag in Gera.

Alle Infos, Pro­gramm etc.: http://www.ratschlag-thueringen.de/

Datum:

4. Novem­ber 2022 – 5. Novem­ber 2022    

Zeit:

ganz­tags

Veranstaltungskategorie/n:

Veranstaltungsort:

Häsel­burg
Burgstraße 12
Gera

Veranstalter*in: